Glimpflich davongekommen – Speyer 1945
Anstelle eines Blog-Schlussworts:
Die an diesem Blog beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abteilung Kulturelles Erbe / Stadtarchiv Speyer freuen sich sehr, zum Abschluss als Autor eines Resümees Herrn Dr. Norbert Ohler gewonnen zu haben! Herr Dr. Ohler (Jahrgang 1935) war Autor des Kapitels zur Speyerer Stadtgeschichte im 3. Reich und in der frühen Nachkriegszeit im Rahmen der dreibändigen "Stadtgeschichte".
Glimpflich davongekommen – Speyer 1945
Norbert Ohler
Im Sommer 1945 erlebten die Speyerer, wie gut das
Schicksal es mit ihnen gemeint hatte. Die Wehrmacht war am 24. März abgezogen,
kampflos, anders als befohlen; tags darauf hatten amerikanische Truppen die
Stadt besetzt. Für Speyer war der Krieg beendet. Verglichen mit anderen Orten
waren nur geringe materielle Verluste zu beklagen. In Ostdeutschland, Ost- und
Südosteuropa wurden Tausende entrechtet und verschleppt oder vertrieben; die
Speyerer durften in ihrer Heimat und in ihren Häusern bleiben.
Erleichterung, Brüche und Kontinuitäten
Die Menschen atmeten auf: Endlich kein Gellen der Sirene
mehr, keine Angst vor Gestapo und SS, die bis zuletzt Deutsche und Ausländer
wegen Defätismus, Feigheit, Fluchtversuch, Sabotage, Wehrkraftzersetzung
gehenkt oder erschossen hatten. Vorbei waren auch die Jahre rauschhafter, von
Aufmärschen, Siegesfeiern und Treueschwüren genährter Begeisterung.
Benommenheit mischte sich bei vielen mit dumpfer Furcht: Was würde die Zukunft
bringen?
In der Stadt sah man fast nur Frauen, Kinder und Alte;
die Männer waren gefallen oder vermisst, in Gefangenschaft oder noch unterwegs.
Der seit Beginn des Krieges 1939 spürbare Mangel verstärkte sich, zumal die
Franzosen, die den Amerikanern als Besatzungsmacht gefolgt waren, requirierten,
was sie für sich und ihre Angehörigen brauchten. Die Hakenkreuzfahnen waren aus
dem Stadtbild verschwunden, die NSDAP und ihre Untergliederungen verboten,
'Hoheitsträger' untergetaucht oder interniert.
Der Oberbürgermeister der Jahre 1919 bis 1943, Karl
Leiling, mühte sich, die städtische Verwaltung wieder in Gang zu bringen. Gefragt
waren Phantasie und schier übermenschliche Kräfte. Alte und Junge haben für Nahrung
gesorgt, für Trinkwasser, Strom und was sonst lebensnotwendig war. Nach
Machthabern des unseligen Regimes benannte Straßen wurden zurückbenannt, Panzergräben
und Bombentrichter eingeebnet, herrenlose Munition und 'Blindgänger' von
Spezialisten unschädlich gemacht; trotzdem sind noch Jahrzehnte später Kinder
und Erwachsene nicht aufgespürten Bomben zum Opfer gefallen.
Seit dem Herbst 1945 haben rechtschaffene Frauen und
Männer in Speyer Grundlagen der parlamentarischen Demokratie gelegt; sie haben
politische Parteien, freie Gewerkschaften und eine freie Presse neu oder wieder
begründet.
Vom Umgang mit Schuld
Das Regime hatte große Gruppen des eigenen Volkes
entrechtet und verfolgt. Genannt seien, ohne Anspruch auf Vollständigkeit,
Christen, 'Ernste Bibelforscher', Gewerkschaftler, Homosexuelle, Juden,
Kommunisten, 'Lebensunwerte' (Behinderte), Sozialdemokraten, 'Zigeuner' (Sinti
und Roma). Sofern die Opfer überlebt hatten und heimgekehrt waren, forderten
sie – wie auch die Sieger – eine gründliche politische Säuberung.
Die Aufgabe der Entnazifizierung des Personals der Stadt,
der Schulen und Schulbücher, der Einrichtungen von Wirtschaft und Gesellschaft
ist nur unvollkommen gelöst worden, aber wirksamer, als Selbstgerechte immer
noch lautstark behaupten. 1945/46 zeigte sich, dass viele Speyerer den
Drohungen und Verlockungen der Nationalsozialisten widerstanden hatten; sie
hatten den Verlust des Arbeitsplatzes, der Freiheit und sogar des Lebens in
Kauf genommen.
Andererseits hatten weit mehr Deutsche zu den Tätern
gehört, als man lange Zeit wahrhaben wollte. Wie sollte man die Schuldigen
ermitteln, welche Sühne ihnen auferlegen? Beschuldigte konnten sich in rechtsstaatlichen
Verfahren verteidigen; viele Belastete wurden zu Freiheits- und
Vermögensstrafen verurteilt; bei den ersten Nachkriegswahlen war ihnen das
Stimmrecht entzogen.
Die neugegründete 'Rheinpfalz' informierte seit Ende
September 1945 auch über Verbrechen, die Deutsche von 1933 bis 1945 verübt
hatten; Breite und Tiefe der Berichterstattung erstaunen den heutigen Leser.
Die Speyerer hatten im 'Dritten Reich' kaum Gelegenheit gehabt, ihre
persönlichen Erfahrungen in größere Zusammenhänge einzuordnen. War Unrecht, das
man selbst erlebt hatte, Randerscheinung oder systembedingt? War es andernorts
vielleicht noch unmenschlicher ins Werk gesetzt worden? Nun
konnte man sich ein Bild machen von Abgründen in der jüngsten deutschen
Geschichte. In Berichten über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse wurde die
langfristige Planung von Angriffskriegen deutlich, in KZ- und Ärzteprozessen wurde
fassbar, was Deutsche und Ausländer in Konzentrationslagern hatten
durchleiden müssen. Verantwortungsvolle Redakteure haben weder beschönigt noch
versucht, die Schuld auf andere abzuwälzen.
Vom heiklen Verhältnis zur Besatzungsmacht
1945 war noch keineswegs ausgemacht, was aus der
französischen Zone, zu der Speyer gehörte, werden würde. Frankreich verstand
sich wieder als Großmacht. Doch weder Deutsche noch Franzosen hatten vergessen,
dass sie im Laufe von fünf Jahren beispiellose Katastrophen erlitten hatten;
man sprach von 'débacle' und 'Zusammenbruch'. Dass beide Länder zu einer
dauerhaften Verständigung gefunden haben, lag auch an ihrem Rangverlust. Weitblickende
Franzosen – unter ihnen emigrierte Deutsche wie A. Grosser und J. Rovan –
wollten Fehler der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vermeiden und mit dem 'neuen'
Deutschland zusammenarbeiten, vor allem mit der deutschen Jugend.
Rückblicke
Der 1935 geborene Verfasser durfte den Aufstieg aus
Zerstörung und Not erleben und in einem Staat groß werden, der sich dem Recht
und der Freiheit verpflichtet weiß – auch Andersdenkenden und Schwachen
gegenüber. Dieser privilegierten Generation sind Versuchungen erspart
geblieben, denen viele Angehörige früherer Jahrgänge nicht gewachsen waren.
Gern hat der Autor das Angebot angenommen, an der
'Geschichte der Stadt Speyer' mitzuarbeiten. Das Stadtarchiv verfügte über
umfangreiche Quellenbestände und bot gute Arbeitsbedingungen. Dr. Wolfgang
Eger, Kulturdezernent der Stadt, hatte versichert, es sei keinerlei Zensur
vorgesehen; dass er sich an diese Zusage gehalten hat, sei dankbar vermerkt.
Mit den letzten Zeilen seines Beitrags zu dem 1982
erschienenen Werk* will der Autor schließen: „Den Speyerern, die als Soldaten
an der Front und in Gefangenenlagern, als Zivilisten in der Heimat oder in
Internierungslagern den Tod fanden, Russen, Ukrainern, Franzosen, Holländern,
die im Krieg und nach dem Krieg in Speyer sterben mussten, all denen, die vom
Krieg seelisch oder körperlich verkrüppelt wurden, den überlebenden Angehörigen
der ausländischen und Speyerer Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft ist dieser
Abschnitt zur Geschichte der Stadt Speyer gewidmet.“
*Norbert Ohler: Speyer in der Zeit der
nationalsozialistischen Diktatur, zur Zeit des Zweiten Weltkrieges und am Beginn
des demokratischen Aufbaues (1933-1949). In: Geschichte der Stadt Speyer. Hrg.
von der Stadt Speyer. Stuttgart: Kohlhammer 1982, Bd. II, S. 355-463, hier S.
457.
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