Montag, 8. Juni 2015

Glimpflich davongekommen – Speyer 1945

Anstelle eines Blog-Schlussworts: 
Die an diesem Blog beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abteilung Kulturelles Erbe / Stadtarchiv Speyer freuen sich sehr, zum Abschluss als Autor eines Resümees Herrn Dr. Norbert Ohler gewonnen zu haben! Herr Dr. Ohler (Jahrgang 1935) war Autor des Kapitels zur Speyerer Stadtgeschichte im 3. Reich und in der frühen Nachkriegszeit im Rahmen der dreibändigen "Stadtgeschichte". 



Glimpflich davongekommen – Speyer 1945
Norbert Ohler

Im Sommer 1945 erlebten die Speyerer, wie gut das Schicksal es mit ihnen gemeint hatte. Die Wehrmacht war am 24. März abgezogen, kampflos, anders als befohlen; tags darauf hatten amerikanische Truppen die Stadt besetzt. Für Speyer war der Krieg beendet. Verglichen mit anderen Orten waren nur geringe materielle Verluste zu beklagen. In Ostdeutschland, Ost- und Südosteuropa wurden Tausende entrechtet und verschleppt oder vertrieben; die Speyerer durften in ihrer Heimat und in ihren Häusern bleiben.
Erleichterung, Brüche und Kontinuitäten
Die Menschen atmeten auf: Endlich kein Gellen der Sirene mehr, keine Angst vor Gestapo und SS, die bis zuletzt Deutsche und Ausländer wegen Defätismus, Feigheit, Fluchtversuch, Sabotage, Wehrkraftzersetzung gehenkt oder erschossen hatten. Vorbei waren auch die Jahre rauschhafter, von Aufmärschen, Siegesfeiern und Treueschwüren genährter Begeisterung. Benommenheit mischte sich bei vielen mit dumpfer Furcht: Was würde die Zukunft bringen?
In der Stadt sah man fast nur Frauen, Kinder und Alte; die Männer waren gefallen oder vermisst, in Gefangenschaft oder noch unterwegs. Der seit Beginn des Krieges 1939 spürbare Mangel verstärkte sich, zumal die Franzosen, die den Amerikanern als Besatzungsmacht gefolgt waren, requirierten, was sie für sich und ihre Angehörigen brauchten. Die Hakenkreuzfahnen waren aus dem Stadtbild verschwunden, die NSDAP und ihre Untergliederungen verboten, 'Hoheitsträger' untergetaucht oder interniert.
Der Oberbürgermeister der Jahre 1919 bis 1943, Karl Leiling, mühte sich, die städtische Verwaltung wieder in Gang zu bringen. Gefragt waren Phantasie und schier übermenschliche Kräfte. Alte und Junge haben für Nahrung gesorgt, für Trinkwasser, Strom und was sonst lebensnotwendig war. Nach Machthabern des unseligen Regimes benannte Straßen wurden zurückbenannt, Panzergräben und Bombentrichter eingeebnet, herrenlose Munition und 'Blindgänger' von Spezialisten unschädlich gemacht; trotzdem sind noch Jahrzehnte später Kinder und Erwachsene nicht aufgespürten Bomben zum Opfer gefallen.
Seit dem Herbst 1945 haben rechtschaffene Frauen und Männer in Speyer Grundlagen der parlamentarischen Demokratie gelegt; sie haben politische Parteien, freie Gewerkschaften und eine freie Presse neu oder wieder begründet.
Vom Umgang mit Schuld
Das Regime hatte große Gruppen des eigenen Volkes entrechtet und verfolgt. Genannt seien, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, Christen, 'Ernste Bibelforscher', Gewerkschaftler, Homosexuelle, Juden, Kommunisten, 'Lebensunwerte' (Behinderte), Sozialdemokraten, 'Zigeuner' (Sinti und Roma). Sofern die Opfer überlebt hatten und heimgekehrt waren, forderten sie – wie auch die Sieger – eine gründliche politische Säuberung.
Die Aufgabe der Entnazifizierung des Personals der Stadt, der Schulen und Schulbücher, der Einrichtungen von Wirtschaft und Gesellschaft ist nur unvollkommen gelöst worden, aber wirksamer, als Selbstgerechte immer noch lautstark behaupten. 1945/46 zeigte sich, dass viele Speyerer den Drohungen und Verlockungen der Nationalsozialisten widerstanden hatten; sie hatten den Verlust des Arbeitsplatzes, der Freiheit und sogar des Lebens in Kauf genommen.
Andererseits hatten weit mehr Deutsche zu den Tätern gehört, als man lange Zeit wahrhaben wollte. Wie sollte man die Schuldigen ermitteln, welche Sühne ihnen auferlegen? Beschuldigte konnten sich in rechtsstaatlichen Verfahren verteidigen; viele Belastete wurden zu Freiheits- und Vermögensstrafen verurteilt; bei den ersten Nachkriegswahlen war ihnen das Stimmrecht entzogen.
Die neugegründete 'Rheinpfalz' informierte seit Ende September 1945 auch über Verbrechen, die Deutsche von 1933 bis 1945 verübt hatten; Breite und Tiefe der Berichterstattung erstaunen den heutigen Leser. Die Speyerer hatten im 'Dritten Reich' kaum Gelegenheit gehabt, ihre persönlichen Erfahrungen in größere Zusammenhänge einzuordnen. War Unrecht, das man selbst erlebt hatte, Randerscheinung oder systembedingt? War es andernorts vielleicht noch unmenschlicher ins Werk gesetzt worden? Nun konnte man sich ein Bild machen von Abgründen in der jüngsten deutschen Geschichte. In Berichten über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse wurde die langfristige Planung von Angriffskriegen deutlich, in KZ- und Ärzteprozessen wurde fassbar, was Deutsche und Ausländer in Konzentrationslagern hatten durchleiden müssen. Verantwortungsvolle Redakteure haben weder beschönigt noch versucht, die Schuld auf andere abzuwälzen.
Vom heiklen Verhältnis zur Besatzungsmacht
1945 war noch keineswegs ausgemacht, was aus der französischen Zone, zu der Speyer gehörte, werden würde. Frankreich verstand sich wieder als Großmacht. Doch weder Deutsche noch Franzosen hatten vergessen, dass sie im Laufe von fünf Jahren beispiellose Katastrophen erlitten hatten; man sprach von 'débacle' und 'Zusammenbruch'. Dass beide Länder zu einer dauerhaften Verständigung gefunden haben, lag auch an ihrem Rangverlust. Weitblickende Franzosen – unter ihnen emigrierte Deutsche wie A. Grosser und J. Rovan – wollten Fehler der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vermeiden und mit dem 'neuen' Deutschland zusammenarbeiten, vor allem mit der deutschen Jugend.
Rückblicke
Der 1935 geborene Verfasser durfte den Aufstieg aus Zerstörung und Not erleben und in einem Staat groß werden, der sich dem Recht und der Freiheit verpflichtet weiß – auch Andersdenkenden und Schwachen gegenüber. Dieser privilegierten Generation sind Versuchungen erspart geblieben, denen viele Angehörige früherer Jahrgänge nicht gewachsen waren.
Gern hat der Autor das Angebot angenommen, an der 'Geschichte der Stadt Speyer' mitzuarbeiten. Das Stadtarchiv verfügte über umfangreiche Quellenbestände und bot gute Arbeitsbedingungen. Dr. Wolfgang Eger, Kulturdezernent der Stadt, hatte versichert, es sei keinerlei Zensur vorgesehen; dass er sich an diese Zusage gehalten hat, sei dankbar vermerkt.
Mit den letzten Zeilen seines Beitrags zu dem 1982 erschienenen Werk* will der Autor schließen: „Den Speyerern, die als Soldaten an der Front und in Gefangenenlagern, als Zivilisten in der Heimat oder in Internierungslagern den Tod fanden, Russen, Ukrainern, Franzosen, Holländern, die im Krieg und nach dem Krieg in Speyer sterben mussten, all denen, die vom Krieg seelisch oder körperlich verkrüppelt wurden, den überlebenden Angehörigen der ausländischen und Speyerer Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft ist dieser Abschnitt zur Geschichte der Stadt Speyer gewidmet.“
*Norbert Ohler: Speyer in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, zur Zeit des Zweiten Weltkrieges und am Beginn des demokratischen Aufbaues (1933-1949). In: Geschichte der Stadt Speyer. Hrg. von der Stadt Speyer. Stuttgart: Kohlhammer 1982, Bd. II, S. 355-463, hier S. 457.


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